Leseprobe




Auszug 1:

Lieselotte Klara Frisch, von allen nur Lili genannt, rannte von der elterlichen Wohnung schnurstracks hinunter in die Backstube. Es war 6.30 Uhr am Morgen, und der Vater hatte gerade die dritte Fuhre frischer Butterhörnchen aus dem großen, alten Backofen geholt. Lili liebte diesen Raum, in dem es immer neblig war von dem ganzen Mehl, dem Puderzucker und all den anderen Zutaten, die den Raum über die Jahrzehnte geprägt und ihn zu dem gemacht hatten was Lilis Vater gerne seine kleine Zauberküche nannte. Dabei strich er dann liebevoll über die gekachelten Wände, die hölzernen Arbeitsflächen und die Backbleche und fing leise an zu summen. Spätestens dann wurde es für Lili ungemütlich, denn für sie stand eines fest: Ihr Vater galt zu Recht als einer der besten Bäcker jenseits des Siebengebirges, doch Musik war ganz und gar nicht sein Metier. Sein Gesang bereitete ihr von je her fast körperliche Schmerzen. Schon als kleiner Säugling brach sie in Gebrüll aus, wenn der Vater bei der Arbeit zu trällern begann und hörte erst wieder auf, wenn er auf Drängen von Lilis Mutter, die ihre Tochter nicht anders zu beruhigen wusste, mit dem Singen aufhörte. Seitdem sind etliche Jahre vergangen und Lili schon längst ihrer Muttersprache mächtig, doch schiefer Gesang quält sie noch immer sehr.


Der Vater hatte längst die Bäckerei der Großeltern übernommen und die eine oder andere Veränderung im Bäckereibetrieb vorgenommen. „Pah, überflüssiger Schnickschnack“, hört Lili noch die Worte des verstorbenen Großvaters. „Du kannst machen was du willst, Franz“, pflegte er seinen Sohn zu belehren, „es wird dich nicht davor bewahren früher als die Hühner aufzustehen!“ Und er hatte Recht. Wenn die Brötchen und das Brot um 7.00 Uhr auf dem Ladentisch liegen sollen, müssen sie drei Stunden vorher in den Ofen. Also kannte Lili es zeitlebens nicht anders, dass, wenn sie aufwachte, bereits der herrliche, frische Duft von warmem Backwerk durch das ganze Haus strömte und einer ihrer ersten Wege, wie magisch angezogen, der in die Backstube war. Schwups, noch ehe der Vater reagieren konnte, hatte sie sich ein leckeres, warmes Butterhörnchen stibitzt und dem Vater beim Hinauseilen einen krümeligen Schmatzer auf die Wange gegeben. „Tschüs Papa, ‘bin spät dran!“ Kurz bevor die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel, hörte sie noch, wie ihr Vater, als kleine Rache, zu singen begann, und automatisch verzog Lili das Gesicht als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. Schlechter Gesang war und blieb für Lili unerträglich. „Oh Gott“, stöhnte sie, „Musik ist weitaus höhere Offenbarung als Papas Gesang!“, dabei hielt sie sich ihre Ohren zu und stieß beinahe mit ihrer Mutter zusammen, die Lili mit zugehaltenen Ohren nicht hatte hören können. Ihre Mutter hob halb im Ernst, halb im Spaß, mahnend den Finger. Lili zog dann unwissend ihre Schultern hoch, verdrehte theatralisch ihre Augen und rief ihrer Mutter beim Verlassen des Hauses zu: „Reine Seelenqual!“, wobei sie grinsend zur Backstube zeigte, in der ihr Vater den neusten deutschen Schlager anstimmte.

 

 

Auszug 2:

Nach ein paar weiteren Titeln machten Anybuddy eine kurze Pause. Axel hatte, wie immer, Hunger und schnappte sich ein Brötchen, das Helga ihm gesichert hatte. Auch die andern schlugen zu. Es dauerte allerdings nicht lange, höchsten drei oder vier Minuten, als wieder etwas aus besagter Ecke ertönte. „Die Musi hat Ruh, die Musi hat Ruh, und wenn die Musi Ruh hat, hat die Musi Ruh“, erschallte es provokant, obwohl sich die Band doch gerade erst ein wenig Verschnaufpause gegönnt hatte. Tom wurde ein bisschen nervös und trieb die anderen dazu an, wieder recht bald an ihre Instrumente zu gehen. „Wir können uns nicht leisten, wenn die Stimmung kippt“, sagte er. „Mit den Typen da ist nicht zu spaßen, ich kenne die zum Teil!“. Und unwillig, mit einem gerade mal angeknabberten Brötchen im Magen fügten sich Axel, Steve und Heiner dem leider wohl Unvermeidbaren.

 

Der zweite Teil des Auftritts begann wieder mit Songs bekannter Bands, wie Deep Purple, Black Sabbath, den Kinks und den Who, daneben aber immer auch mal einer Eigenkomposition. Erstaunlicherweise verlief das alles reibungslos, und man hörte eigentlich nichts mehr aus der Richtung der Störenfriede. Vielleicht hatte das aber auch damit zu tun, dass sich „Männiken“ mal kurz im Saal blicken ließ. „Männiken“ nannten alle Beueler liebevoll ihren jungen Kaplan, der noch nicht lange im Amt war, aber bei der Jugend sehr gut ankam. Männiken fuhr einen Jeep, der fast immer voll beladen war mit Pfadfindern und hatte stets ein ordentliches Tempo drauf, wenn er mit seinem Gefährt durch die Beueler Gassen kurvte. Da wurden ihm von so manch einem Rentner, der sich und seines Lebens nicht mehr sicher war, Flüche nachgeschrien, die alles andere waren als dazu bestimmt ein zum Priester geweihtes Ohr zu treffen. Männiken juckte das allerdings recht wenig, denn er liebte seinen Fahrstil und dachte nicht daran ihn zu ändern. Und außerdem bat er ja regelmäßig seinen höchsten Chef da oben gut auf ihn und auf die anderen Verkehrsteilnehmer zu achten, wenn er, Männiken, seinem Jeep die Sporen gab. Nun, wo Männiken also da war, war Ruhe. Und die Band konnte ihren zweiten Teil und den Beginn des dritten gut runter spielen.

 

Dann aber fing es wieder an, und, wie es schien, schlimmer als zuvor. Offensichtlich hatte sich in besagter Gruppe während Männikens Anwesenheit Frust darüber breit gemacht, dass man die aufgestauten und aufgebauten Aggressionen nicht so recht rauslassen konnte.

 

Auszug 3:

In der Juke-Box, die an die großen Lautsprecher im Bowling Center angeschlossen waren, lief gerade „Song For The Asking“ von Simon & Garfunkel aus dem Jahr 1968, ein ruhiges, weiches, aber sehr tiefgehendes Lied. „Hey Leute, hört euch den Song mal an. Wäre das nicht auch mal was für uns? Neben dem regulären Programm?“, schaltete sich Steve plötzlich ein. „Oh nein“, meldete sich Tom, „Bitte nicht so ein gefühlsduseliger Schmarren! Wir brauchen mehr Action. T Rex <Hot Love> sollten wir bringen, ist erstens aktuell und gibt Power! Steve, was hast du bloß für ‘nen Geschmack!“.

Einen sehr guten“, hörten sie eine tiefe, ruhige Stimme ein paar Sitze weiter rechts. Die Jungs schauten überrascht auf und wendeten sich der Stimme zu. Sie gehörte einem Mann im mittleren Alter, der mit einem gelassenen und offenen Blick zu ihnen herüberschaute. Er war für sein Alter recht jugendlich gekleidet, und auch seine schulterlangen Haare verrieten, dass er sich mehr der jüngeren, als der älteren Generation zugehörig fühlte. Der Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass er eine Sonnenbrille mit runden Gläsern a la John Lennon trug, die allerdings ein wenig zu tief auf seiner Nase saß.

Hey, Sie scheinen durchzublicken!“, rief ihm Tom leicht ironisch und provozierend zu. „Sind Sie vom Fach?“

„Kann man vielleicht so sagen“, antwortete der Herr mit der Sonnenbrille. „‘hab schon mal hier und da mitgespielt, eigentlich so ziemlich überall“.Was heißt überall“, schaltete sich Steve ein, „und wo und mit wem haben Sie da gespielt?“. „Ist ‘ne lange Story, Jungs. Zuletzt habe ich ein bisschen bei Alexis Corner gebassert, aber nur als Ersatz vom Ersatz. Andy Fraser von „Free“ oder Colin Hodgkinson waren doch zu gut, da konnte ich nicht ganz mithalten.“ „Wie, Sie haben bei Alexis Corner gespielt, dem Alexis Corner, der die Stones, Jack Bruce und Ginger Baker entdeckt hat?“ „Ja, genau, bei dem Alexis war ich“, gab der ältere Knabe zur Antwort. „Ich heiße übrigens Richard, Ihr könnt aber Dick sagen. Das sagen jedenfalls alle meine Freunde.“ „Und Sie spielen Bass!“, warf Steve jetzt freudig ein. „Leute, wenn ihr mir einen Gefallen tun wollt, dann sagt bitte „du“ zu mir; ich bin noch nicht im Rollstuhl oder scheintot!“. Mit lautem Lachen quittierte die Band Dicks letzte Worte.

Was ich von eurem Gespräch eben mitbekommen habe ist, dass ihr auch Musik macht, eine Band seid, stimmt’s?“ „Ja, ist richtig, kann man so behaupten.“ „Und ihr macht auch eigene Musik?“ „Ja, sowohl, als auch. Wir kombinieren das ein bisschen, je nach Publikum. Auf jeden Fall schreiben wir eigene Songs.“, antwortete Axel selbstbewusst.
„Das ist gut!“, gab Dick ein wenig gedankenverloren von sich, sodass eine längere Pause entstand, in der niemand so recht wusste, was er sagen sollte.

 

 

Auszug 4:

Lili fand sich in einem dunklen Dachzimmer wieder. Es kam nur wenig Licht durch die kleinen Fenster. Zudem war es kalt, und eine stechende Nässe drang durch alle Glieder. Lili hatte aufgrund der Dunkelheit Mühe sich im Zimmer zu orientieren. So dauerte es eine Weile, bis sie das Bett in der hinteren Ecke des Raums bemerkte. Es war, für Träume nicht unüblich, als würde sie die ihr darbietende Szene wie auf einem Bildschirm verfolgen. Da lag eine junge Frau im Bett und bekam ein Kind. Die Szenerie ängstigte Lili, denn ganz offensichtlich hatte die Frau heftige Schmerzen, stöhnte und bäumte sich auf, um dann wieder schweißgebadet ins Kissen zu sinken. An ihrem Bett befanden sich zwei weitere Frauen, wovon die eine der beiden sehr alt wirkte, doch schien sie sicher zu wissen was zu tun war, gab der anderen Anweisungen, die diese dankbar befolgte. „Es kommt, es kommt. Schnell holt noch mehr heißes Wasser, und Tücher, wir brauchen ganz viele Tücher. Wo ist der elende Vater? Schicke man nach ihm im Wirtshaus. Der Allmächtige möge uns helfen!

 

Es war die ältere der beiden, die, nun nicht mehr ruhig, sondern mitgerissen vom Geschehen, die Worte der Jüngeren entgegen schrie. Diese eilte sogleich aus dem Zimmer, und Lili hörte, wie sich ihre Schritte im Haus verloren. Oh Gott, dachte Lili beim Betrachten dieser bedrohlichen Szenerie, was passiert da gerade, was soll das, oh mein Gott, das ist absolut…weiter kam Lili nicht, denn mit einem Mal änderte sich alles. Sie war nicht länger in der dunklen Kammer, sondern lag auf irgendetwas, das zwar hier und da pikste, doch auch angenehm weich war. Es machte Spaß darauf zu liegen, in den Giebel an der Decke über ihr zu schauen und die Reflektionen der Sonnenstrahlen, die durch die Dachfenster schienen, zu beobachten. „Schau genau hin, Lieselotte, sie tanzen wie meine Noten auf dem Papier. Da schau, manch eine stellt sich gar an zu fliegen, hoch, höher, immer höher erhebt sie sich in ihrer unendlichen Grazie. Und, horch auf, gar vernimmst du ihr liebliches Singen und Summen.

 

Lili war so fasziniert und gebannt von den Sonnenstrahlen und dem was die Stimme neben ihr sagte. „Das ist so wunder-, wunder-, wunderschön. Ich frage mich...“, doch als sie der Stimme ihren Kopf zudrehte, sah sie nur noch in der Ferne eine kleine kindliche Gestalt kichernd davonhuschen. „Du Eierfuchs, wehe dir, wenn ich dich zu fassen kriege“, drangen schimpfenden Worte an Lilis Ohr. Im selben Moment merkte sie, wie es um ihre Füße merkwürdig feucht wurde. Sie blickte nach unten und sah sich inmitten von kaputten Eierschalen stehen, bei welchen der Eidotter gerissen, ins Eiweiß geflossen war und nun über ihre nackten Zehen glibberte.

Ihhhhhgitt“, entfuhr es Lili,...

 

Auszug 5:

Warum rauschet es itzo in meinem Kopfe so arg? Ich muss es wohl hören! Ich muss dirigiren, dirigiren, dirigiren! Wo bleiben die Bläser, wo bleibt das Signal, das Signal…ich kann es nicht hören. Es kündet doch an der Freyheit Schwingen, sich erhebend, leicht erst, dann erhaben in majestätischem Tacte.

 

Aber dort unten, in einem Saal ähnlichen Raume, grölen die Pfadfinder, die Ministranten und die Schüler des Gymnasiums. Warum stehe ich auf der Bühne des Pfarrheims und dirigiere, so dass sich der ganze Saal nach meinem Taktstock richtet. Und wer bin ich? Lili, Axel, die Stimme im Kopf??? Die Mädchen in schrillen, zum Teil skurrilen Kleidern, wiegen sich wie Grashalme nach links, die Jungs, ebenfalls in merkwürdigen Hosen, mit Perücken ähnlichen, langen Haaren nach rechts, immer im Takt, eins, zwei, drei, vier. Was um Himmelswillen mache ich hier?

 

Fidelio, meine Heldin, Leonore, hier stehe ich und bringe dir Unsterblichkeit“. Florestan, mein Florestan, Axel, oh Axel… „Warum rauschet es, ich höre nichts, ich höre nichts mehr, alles ist still. Ich bin taub! So helft mir doch…!“

 

Mit einem hellen Schrei schnellt Lili hoch und sitzt schweißnass, die Augen weit aufgerissen, noch ganz im gerade so authentisch Erlebten, in ihrem Bett. Eine Schrecksekunde, die sich unendlich auszudehnen droht. Nichts, sie hört rein gar nichts. Nicht der kleinste Laut dringt zu ihr hervor. Nicht nur, dass ich langsam durchdrehe, jetzt werde ich auch noch taub. Ein nicht gekanntes Grauen, das sich schnell in Panik verwandelt, erfasst die noch schlaftrunkene Lili vollends. Taub, ich bin taub. Immer wieder geht es Lili durch den Kopf. Doch dann, mit einem Mal, ist da wieder diese leise Melodie, die langsam lauter anschwillt und plötzlich ganz präsent ist. Lili stöhnt auf. Hört das denn niemals mehr auf? Würde sie bis ans Ende ihrer Tage von Dämonen gequält werden, die mit und aus ihr heraus sprechen, die sogar Zugang zu ihren Träumen finden? Irgendwie wurde ihr Körper wach, bewegte seine Glieder. Ihre Arme schlugen die ohnehin zerwühlte Bettdecke zur Seite und ihre Füße stellten sich auf den kalten Holzfußboden. Doch, obwohl sie langsam zu sich kam, war da immer noch diese Musik. Ich kenne sie, ich kenne sie ach so gut, hörte Lili es in ihrem Kopf. Sie schüttelt wild ihren noch müden Schädel. So ein Schwachsinn, wieso soll ich diese dämliche Musik kennen?

 

 

Auszug 6:

Es folgten mit Bleistift schnell hin gekritzelte Stichwörter: gehen ins Beethovenhaus; er kennt sich total aus; jeden Raum; die Gegenstände; korrigiert manche angebrachte Anmerkung; ist immer wieder erstaunt, dass aus seinem Geburtshaus ein Museum geworden ist;

Das Lesen der Notizen lässt das Erlebte noch einmal wie einen Film vor Lili`s innerem Auge ablaufen:

Nachdem sie der Stimme im Kopf die Frage gestellt hatte, kam eine gefühlte Ewigkeit nichts. Dann endlich: „Woher wisset Ihr….wer war es, der Euch wissen ließet…“? – Hörbar irritiert darüber mit einem Mal angesprochen zu werden, suchte die Stimme nach Worten.

Oh Mann, ich habe eins und eins zusammengezählt!“ Lili hatte ihre Fassung wieder, und war nun ihrerseits leicht genervt von der unsicheren Stimme, die sonst kein Problem damit hatte laut über Lilis Stimmbänder loszupoltern. „Äh, wie meinen“? bekam Lili zögerlich zur Antwort. Lili verdrehte ihre Augen. Jetzt musste sie auch noch so sprechen bzw. denken, dass die Stimme in ihrem Kopf sie verstand.

Ist alles bei Ihnen in Ordnung?“ Die Frau am Eingang zum Beethovenhaus, der Lili gerade ihr Billett entgegenstreckte, sah sie fragend an. „Ja, alles in Ordnung“. Lili lächelte sie an und dachte bei sich: ich muss vorsichtig sein, sonst…. weiter kam sie nicht denn schon meldete sich die Stimme in ihrem Kopf: „Was ist aus meines Eltern Haus, dem Hause meiner Kindheit geworden?...

Das war das absolut Schrägste was sie je erlebt hatte, und so konnte es auf gar keinen Fall weitergehen. Dieser Beethoven muss raus aus meinem Kopf. Wieso ist er überhaupt da drin, was will er, und was will er von mir? Das muss ich hier und jetzt klären. Lili richtete sich auf und schaute sich um.

 

Auszug 7:

Steve und Heiner, die sich bisher rausgehalten hatten, spürten, dass etwas ganz und gar Explosives in der Luft hing und setzten schon an zu beschwichtigen. Doch es war zu spät! Mit einem Satz sprang Axel auf und stand in gleichen Moment vor Tom.

Was glaubst du eingebildeter Arsch eigentlich wer du bist! Mick Jagger oder was?“, brüllte er ihn nun an. „Ja, anscheinend kriegst du ein paar Mädels rum, wohl immer dieselbe Sorte, kann schon sein, aber für mich bist du einfach ein arroganter Gockel mit ‘ner Gitarre um den Hals.“

Tom, den diese Worte von Axel bis ins Mark trafen und der jetzt ebenfalls außer sich war vor Wut, legte plötzlich die teure 12-saitige Ibanez zurück, ging auf Axel zu und schrie: „Du bist doch selbst ein solcher Volltrottel. Meinst du etwa, du wärst Jimmy Page oder George Harrison oder was? Die können sich jedenfalls auf der Bühne bewegen und spielen können sie auch bei weitem besser als du. Du bist doch selbst so in dich und deine Gitarre verliebt, dass du um dich herum überhaupt nichts mitbekommst. Alter, mit dir zusammen stehe ich übermorgen so nicht auf der Bühne!“. Damit packte er sich seine Jacke und verließ den Proberaum mit den Worten „Wisst ihr was? Ihr könnt mich alle mal! Ich hab die Schnauze voll! Wenn ihr euch blamieren wollt, dann bitte ohne mich. Sucht euch einfach einen anderen Rhythmus-Gitarristen. Ihr kommt sicher auch ohne mich zurecht.“

Ungläubig und starr vor Schrecken standen die restlichen Drei da und konnten nicht fassen was da soeben geschah.

Nach etwa 10 Minuten, einer gefühlten Ewigkeit, fand Steve zu seiner Sprache zurück: „Das darf doch nicht wahr sein! Das gibt’s doch gar nicht!“ „Und was erzählen wir denn jetzt Dick? Axel, war das denn nötig?“, meldete sich Heiner zu Wort. Axel erhob sich seinerseits und ging aus dem Raum. Ich hoffe, wenigstens du kommst wieder“, bemerkte Steve. „Keine Angst, ich bin nicht so ein Verräter, der einfach abspringt, wenn es ihm nicht passt!“, antwortete ihm Axel „Ich brauch jetzt nur mal frische Luft.“

Mit proben war jetzt auch erst mal Essig. Keiner der verbliebenen Drei hatte Lust, unter diesen Umständen weiterzuspielen. Und so saßen sie apathisch auf ein paar Stühlen, die im Raum standen und glotzten die Wände an, bis die Tür aufging und Dick gut gelaunt mit fünf übergroßen Pizzen hereintrat. Mit den Worten „Na, macht ihr ‘ne kleine Pause? Wo ist Tom?“ begrüßte er die anwesenden Musiker, nichts ahnend was sich in den letzten Stunden abgespielt hatte. Doch schnell merkte er an den Reaktionen der Jungs, dass irgendwas nicht stimmte. „Was ist los? Hey, guys, what has happened? Steve, Ax, ihr schaut ja drein wie geprügelte Hunde!“

Nachdem Heiner auserkoren wurde das Wort zu führen und er Dick erklärte was geschehen war, war dieser außer sich. „Was? Tom springt einfach ab? Das geht überhaupt nicht!“, warf er ein und knallte die Pizzen in die nächste Ecke. „Wo wohnt der Bursche? Wo kann ich ihn erwischen? Ich bring ihn hierhin zurück, noch heute, das verspreche ich euch. Und wenn ich ihm mit einer Konventionalstrafe drohe, ihm sämtliche Anwälte auf den Leib hetze: Der Knabe hat hier seinen Vertrag zu erfüllen. Er hat zugesagt, und das ist auch eine juristische Willenserklärung. So einfach läuft das nicht! Ihr wartet hier, klar?“ „Okkam es mutlos von den Dreien zurück.

 

 

Auszug 8:

Lilis Gefühlslage war die einer Waschmaschine im Vollwaschgang mit maximaler Umdrehungszahl im Schleuderprogramm. Ihr wurde warm und kalt zugleich, das Kribbeln im Bauch machte sie fast wahnsinnig, und ihr Herz raste, als würde es jeden Augenblick aus ihr herausspringen. Doch mit einem Mal wurde Lili ganz ruhig, und sie stellte zutiefst erstaunt fest: ich bin verliebt! Ja, Mensch, in diesen miesen, super süßen Typen namens Axel. Ob ich das nun will oder nicht. Ich bin verliebt! Lili stöhnte gequält auf, ließ sich auf ihr Bett fallen und schlief kurz darauf ein, denn dieser chaotische Gefühlszustand hatte sie total erschöpft.

Doch auch im Schlaf ließen ihre Gefühle sie nicht in Ruhe, sondern trieben sie durch einen wilden, völlig abgedrehten Traum: Wie es in Träumen oft der Fall ist, so wusste auch Lili nicht wirklich, wo sie sich befand. Teilweise erinnerte sie die Umgebung an Beuel. Und da war auch ein Fluss, der gut als Rhein hätte durchgehen können, doch gleichzeitig sah es nicht so aus wie das Beuel, das sie kannte. Und auch gab es am Rhein, weder auf Beueler noch auf Bonner Seite, solch ausladende, breite, zum Teil bewaldete Gegenden, an denen sich die Rheinufer anschlossen. Auch hätte Lili das Wetter eher nach London verortet, so trüb und neblig war es. Doch Träume haben nun mal ihre eigenen Gesetze.

 

 Auszug 9:

Siehe da. Sie sitzen herum wie eh und je und warten auf ihren Leithammel. Hei, da kömmet er ja schon, den Taktstocke in der Hand. Das Tongesumme und –gebrumme wird leiser. Ich höre es, ich höre es so gut, sölbst die feineren Töne noch…wie wunderbar! Itzo…es wird ganz ruhig im Saal. Welch ein schöner Saal! Die Decke, wie verschachtelet sie ist, tausend Hölzer ineinander verwoben, welch ein Klang! Meine Halle!
Da, die Exposition… datatata…es geht an. Oh, welche Freude es so zu hören! Die Fermate, ja, sie solle doch noch besser ausklingen. Der Meister erkennet es, ah…man wiederhole.

 

Noch einmal: datatata… ja, nun itzet es besser. Nun fließet die Musik. Meisterhaft, ja meisterhaft, der Kapellmeister. Nur…warum dirigiret er mein Werk ein wenig schneller? Ich habe es langsamer im Kopfe. Seisdrum, ich will jetzt hören, ja hören, hören, hören und genießen. Es ist so schön, alle Töne sind auf ihrem Platze. Das Horn, wie es leitet zum Seitenthema, die abwärtige Achtelfigur, ist das wirklich alles von mir? Habe ich solch herrliche Musik geschrieben?

Was ist jetzt? Ja, der Kapellmeister hat es gerhöret. Der absteigende Kontrapunkt der Bässe kam nicht wie gewunschen. Man brechet an der Stelle ab. Der Meister ballt seine Fäust und schauet ernst und besorgt; doch dann weichet seine Sorgenmine einem Lächeln. Welch ein Könner! Alle hören ihm gebannet zu. Und erneut beginnt die Stelle. Ja, so soll es sein! Nur, warum alles so schnell? Hat denn diese Zeit keine Ruh mehr?“

 

Lili sitzt auf einem der zahllosen freien Plätze in der Mitte und hört sowohl die Musik als auch Beethovens Stimme. Es war wohl ein großes Glück, hereingelassen zu werden zur Probe. Viele andere Menschen standen schon vor der großen Eingangstür Schlange und wollten der Probe beiwohnen; doch dann entschloss man sich von Seiten der Konzertleitung, nur wenige hereinzulassen. Dass Lili dabei war, hatte sicherlich auch etwas damit zu tun, dass sie ihr unwiderstehlich süßes Lächeln aufsetzte und den Türsteher damit einlullte.

Jetzt jedenfalls saß sie mit einigen anderen zufällig Auserwählten zusammen und lauschte der Probe. Und der Mann, um den es hier im Wesentlichen ging, der eigentliche Held dieser ganzen Aufführung, die - das wurde Lili mehr und mehr klar – eine unglaubliche Organisation und Präzision erforderte... was schon die Leitung eines solchen Orchesters anbelangte: welch ein Können war hier erforderlich, welch feines Gehör… Volker Wangenheim, so las sie auf dem Plakat, so hieß der Dirigent, den sie jetzt bei der Probe sah. Aber der eigentliche Held, der Titan, einer der größten Musiker aller Zeiten, dieses Genie…saß mit ihr zusammen im Konzertsaal, saß nicht neben ihr, nicht hinter oder vor ihr, nein…war in ihrem Kopf…und redete und redete in einer Tour. Lili wollte hören, wollte auch mitbekommen was hier musikalisch ablief, interessierte sich auf einmal dafür. Und ausgerechnet der Mensch, der dieses ganze Wahnsinns-Zeug aus sich herausgeschöpft hatte, ausgerechnet der versaute ihr den ganzen Hörgenuss.

Lilis Kopf schien zu platzen. Die Pauken, die Trompeten, Streicher, Hörner, alles das war nichts gegen das was Beethoven ihr permanent zuraunte, womit er sie geradezu zu dröhnte!

All dies wuchs ständig in ihr an, sie stemmte und wehrte sich dagegen, aber Ludwig hörte nicht auf. Ihr „...bitte, darf ich deine Musik auch in Ruhe hören“, registrierte er überhaupt nicht, so sehr war er gefangen im Sog seines von ihm selbst geschaffenen Klang-Universums. Bis er mitten in der Coda, die den ersten Satz abschließt, plötzlich ein „Hör jetzt endlich mal auf zu sabbern, und lass mich deine Musik jetzt auch mal hören!“ vernahm.


Aber nicht nur Ludwig vernahm diese Worte, sondern leider auch die neben Lili sitzenden Zuhörer, die sich geschockt zu ihr drehten. Selbst der Dirigent schaute zu ihr rüber. Lili hoffte, dass er die Worte nicht verstanden hatte. Die Sitznachbarn jedenfalls schüttelten ihre Köpfe. „Unglaublich, eine solche Musik so durch den Dreck zu ziehen“, hörte sie eine ältere Dame flüstern. „Da haben wir es wieder: Diese Jugend heutzutage besitzt keine Werte mehr!“ Deutlich handfester wurde ein rundlicher Mann im mittleren Alter, indem er Lili direkt anblickte und sagte: „Mädsche, wenn du he Terror maache wills, dann schmieß ich disch eijehändisch erus. Mir sinn he nit bei de Rolling-Schtones!“*

 

*Mädchen, wenn du hier Terror machen willst, schmeiße ich dich eigenhändig raus. Wir sind hier nicht bei den Rolling-Stones!

 

 

Auszug 10:

Habt ihr die Karren vor dem Eingang gesehen, Leute? Nicht schlecht, oder? Den Bentley würde ich mir auch gerne in die Garage stellen.“ Steve, der größte Autofan von ihnen, geriet ins Schwärmen.“ Ja, typisch britische Kiste, he?“, stimmte Ax ein, worauf Steve gleich trocken dagegenhielt: „Ja, typisch britisch, gehört jetzt auch zu VW.“ Ein gemeinsames Gelächter löste die große Anspannung, unter der die Jungs jetzt standen, während sie gegen 17.00 Uhr über den Parkplatz vor der Bad Godesberger Stadthalle zum Eingang gingen. Keiner von ihnen hatte in der Nacht richtig geschlafen, und wenn überhaupt, dann sehr unruhig oberflächlich, so wie Axel. Die allesamt vor dem Eingang geparkten Autos hinterließen schon sehr ihre Wirkung bei ihnen. Sie verbanden damit nicht nur ein eventuelles Protzgehabe oder das Angeben mit materiellen Dingen, sondern ein gewisses Lebens- und Freiheitsgefühl, welches Stars im Musikgeschäft nun mal verkörperten. Die Spannung, gleich auf die Fremeloes zu treffen, ihnen persönlich zu begegnen, vielleicht sogar ein bisschen mit ihnen zu reden, sofern man sich gegenseitig verstand, stieg wieder an.
Nachdem Heiner, sonst so was wie der ruhende Pol der Band, als erster die große Eingangstür der Halle mit pochendem Herzen und zittriger Hand öffnete und sie alle eintraten, verstärkte sich diese Spannung bei ihnen noch. Schlagzeug-Geräusche drangen an ihr Ohr, dazu etwas leiser Bass und Rhythmusgitarre. „Hey, Jungs, ich kenn den Song!“, kam es aus Tom heraus. „Ist der von denen? Ich glaub, der ist gerade ein ziemlicher Hit, läuft jedenfalls auf RTL in den Charts.“ „Ja, irgendwie sowas wie <Life>, glaube ich“, fiel Axel ein. „He And His Life“, ergänzte Steve. „Ist momentan Nummer vier in den britischen Charts“. „Von wegen, die sind nicht mehr up to date, Leute“, stellte Heiner fest. Jetzt wird mir auch klar, warum die ihre heißen Kisten fahren können. Das Lied dürfte ihnen sicher schon einiges an Flocken eingebracht haben.“

 

 

Auszug 11:

Auf dem ganzen Weg von der Eingangshalle bis zu ihrem Platz vor der Bühne waren beide Freundinnen immer wieder von wohlwollenden Blicken des männlichen Publikums begleitet worden, bis hin zu anerkennendem Zungenschnalzen und Kommentaren wie „Hey Ladies, wohin des Weges?“, oder „Hallo, Süße, wo hast du dich bloß so lange versteckt?“ Dabei musste Helga neidlos anerkennen, dass zum überwiegenden Teil Lili damit gemeint war. Die jedoch bekam von alledem nichts mit. Spätestens seitdem der Typ am Eingang unsanft Helgas Ausführungen beendet hatte und Lili damit wieder mittendrin war in ihrem Axel-Drama, konnte sie an nichts anderes mehr denken, war sie taub für alle Kommentare. Ja sogar für die in ihrem Kopf.

Denn Beethoven, dem sie bei ihrer Einkaufstour ziemlich harsch das Wort verboten hatte, hatte sich daraufhin wortlos zurückgezogen. Natürlich waren es nicht nur Lilis doch recht beleidigende Worte gewesen, die ihn dazu gebracht hatten. Nein, es war in erster Linie die Generalprobe in jener Halle gewesen, die seinen Namen trägt. Und natürlich das unerwartete Hören der von ihm selbst komponierten Musik. Wie da wirklich gute Musiker sich anschickten, seiner Musik, seiner Fünften, an der er, wie letztlich an allen seinen Werken, mit Herzblut gefeilt hatte, in einer ihm bisher ungekannten Art und Weise Ausdruck zu verleihen. Wie sie dies mit großer Hingabe und Konzentration taten. In diesem Moment hatte Ludwig die tiefe Liebe gespürt, die nicht nur er, sondern auch diese Musiker für sein Werk empfanden. Dieses Gefühl hatte ihn überwältigt, hatte ihn demütig werden lassen.

Außerdem, er gab es unumwunden zu, brauchte er mal eine Pause von dieser Lili. Das war ja noch toller als zu seiner Zeit, wie sich die Fräuleins in dieser Zeit gebärdeten, welch krauses, unverständliches Zeugs sie sprachen und dann auch taten. Naja, irgendwie auch schon a bissel wie die Damen seiner Zeit, und dann doch wieder nicht. Die Damenwelt halt, ein Mysterium! Doch war er nun etwas verwirrt. War er, auch wenn er Ruhe gab, doch immer noch bei ihr! Das Fräulein hatte ihm vor seiner Halle - auch das klang gar zu schön: „Beethovenhalle“ - also dort hatte diese Lili ihm versprochen mit ihm zu jenem Silvesterkonzert zu gehen, welches auf dem Plakat vor seiner Halle angekündigt war. Doch vor der Halle, vor der Lili gestanden hatte, konnte er das heutige Datum lesen. Es war der 12. Dezember, also nicht Silvester. „Wehrtes Fräulein, erlaubt mir die Frage. Werden heute Abend wieder meine Kompositionen gespielt? Sind wir deshalb hier? So antwortet doch, wehrtes Fräulein! Lasset mich nicht im Ungewissen! Seiet nicht so garstig zu mir!“ – Doch so sehr er sich auch mühte, er bekam keine Antwort. Lili war so im Tunnel, an dessen Ausgang nur Platz für einen war: Axel! Der Weg dahin schien unendlich zu sein. Den Blick auf die Bühne gerichtet, die dort bereits stehenden, noch herrenlose Mikrofone anstarrend, ließ Lili alles an sich abprallen. Helga, die, nachdem beide Freundinnen einen guten Platz an der Bühne gefunden hatten, zunächst versuchte durch die eine oder andere lustige Geschichte aus ihrem Friseursalon-Alltag abzulenken, gab nach dem dritten Anlauf auf und betete im Stillen, Lili und letztlich auch sie mögen den Abend gut überstehen. Auch Beethoven gab auf, denn soeben bewegten sich menschliche Gestalten aus dem Bühnenhintergrund nach vorne an die Mikrofone. Die Vorgruppe nahm ihre Plätze ein, der Konzertabend begann.

 

 

Auszug 12:

Axel und Steve stiegen ein in Dick’s Sport-Coupé, während Heiner bei Joe Breaker mitfuhr - „Gottseidank“, wie Axel erleichternd feststellte – und Tom in der Nobelkarosse des Gitarristen, wo er sich neben Lili platzierte.

Während der Fahrt ließ Dick noch einmal seiner Begeisterung über den Auftritt der Jungs freien Lauf. „Astrein“ und „bärenstark“ waren Adjektive, die oft fielen, wie auch ab und an „bullshit“, wenn er mit irgendeiner Sache aus dem Business nicht einverstanden war. Nein, für ihn gab es keinen Zweifel, dass die Jungs da ganz groß rauskommen könnten; er, Dick, würde sie sogar managen, wenn sie das wollten.

Steves Miene wurde immer zufriedener, und auch Axel hörte solche Worte natürlich nicht ungern, obwohl ihn der momentan hinter ihnen fahrende Bentley und seine Insassen entschieden mehr interessierten.

Wo geht’s eigentlich hin?“, unterbrach Axel an einer der wenigen Redepausen Dicks Monolog. „Ach ja, hab‘ ich ja noch gar nicht gesagt. Wir fahren in den „Stiefel“. Kennt ihr das Lokal?“

Die Gaststätte „Im Stiefel“ in der Bonngasse 30 war den Jungs schon bekannt, das heißt, sie kamen des Öfteren mal bei Besorgungen oder Einkäufen in der Stadt daran vorbei, hatten allerdings selbst bisher noch nicht die Gelegenheit sich dort hineinzubegeben. Vielleicht schien ihnen der „Stiefel“ auch ein wenig zu bürgerlich, zu spießig, um sich dort aufzuhalten.

Deshalb fragte Steve verwundert: „Im Stiefel? Das hätte ich jetzt nicht gedacht!“ Dick entgegnete, dass das Essen dort sehr gut sei und…- was unsere britischen Freunde natürlich sofort überzeugte – das Bier, das dort gebraut wurde, ebenfalls.
„Ok“, meinte Axel, „dann auf in den Stiefel! Ich hab‘ auch langsam Hunger!“ In diesem Punkt waren sich alle im Auto einig. Und nun war die Erwartung an Speis und Trank hoch und steigerte sich von Minute zu Minute.

Auch in den anderen Fahrzeugen war die Stimmung gut. In Joe Breaker‘s Wagen wurde mittlerweile gesungen was das Zeug hielt. Helga und Heiner, der, und das registrierte Helga mit einem freudigen Kribbeln in der Bauchgegend, locker seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte, schmetterten die Hits der Fremeloes zusammen mit Joe bei heruntergelassenen Seitenscheiben, sodass es sicher alle Fußgänger, die ihnen begegneten, mitbekamen. Beim Refrain von „My Little Baby“ - „you can make the moonshine bright…” - geriet Joe in der Euphorie dann auch prompt auf die linke Fahrbahn, die er als Engländer zuhause ja gewohnheitsmäßig befuhr.

Zum Glück bemerkte er es rechtzeitig, sodass er bei…“if you could do whatever you need” wieder auf deutsche Verhältnisse umswitchen konnte.


Auszug 13:

Lilis Unbekümmertheit schwand nun rapide mehr und mehr. Sie wollte sich hier nicht an den Gitarristen hängen und das auch deutlich machen. Und gerade, als sie sich überlegte aufzustehen, um Axel zu fragen, ob er vielleicht eine Zigarette für sie habe, vernahm sie eine altbekannte Stimme, erst leise und irgendwo tief in ihrem Inneren, dann lauter und lauter werdend:

„…kenne ich…dies ist doch…hat er nicht immer hier an diesem Orte gesessen? In diesem Raume, an jener Stelle vernahm ich doch dereinst seine Stimme. Schon von draußen erdröhnte sie mir in meinen Ohren, wenn ich mit der Mutter und dem Bruder kam und hereingeschickt wurde, um ihn zu holen.“

Wusstet Ihr eigentlich“, hob Dick just in diesem Moment an, „dass dieses Lokal, in dem wir uns im Augenblick befinden, schon in etwa zu Beethovens Geburt bestand und Beethovens Vater hier ein und ausging?“ „Did you know that this place…“, übersetzte er zugleich ins Englische.

“Wou, Beethovens daddy, really?“, hallte es von gleich drei oder vier britischen und einer amerikanischen Stimme wider. „And we're eating here 200 years later! Great stuff!” Ja, genau”, fuhr Dick fort. „Und böse Stimmen behaupten heute noch, dass bei der Beerdigung von Beethovens Vater dem damaligen Wirt dieses Lokals kondoliert wurde, weil ihm ein so guter Kunde wegfiel.“

„Ich höre sie so deutlich, schon von außen, weit vor dem Lokale, die Stimme meines werthen Herrn Papas:

>Wenn isch mir dat janze Aristorkate-Pack esu aanlur, wie die prasse un fiere, un mir, dat einfache Volk, hann nix, da kresch isch de Wut. Et wid Zick, dat he bald de Köpp rolle!< >Mensch, Johann, bliev still! Wenn dat de Polizey erfährt wat du he sääs, wirste selevs jeköpp< <Es mir ejal. Et wird Zick, dat he bald de Köpp rolle! Et wird Zick, dat he bald de Köpp rolle!<“ *

Lili kullerten diese letzten Worte immer und immer wieder aus ihrem Mund. Und dabei warf sie ihren roten Haarschopf hin und her, was total niedlich aussah, aber völlig diametral zum Inhalt ihrer Aussage.

Den Fremeloes standen die Fragezeichen nur so in ihre Gesichter geschrieben, sie verstanden gottlob nichts. Auch Dick, der nicht Rheinländer war, konnte sich keinen Reim aus diesen Worten machen. Es hörte sich für ihn so ähnlich an wie „Zickezacke zickezacke heuheuheu“, und er hielt das für einen Trinkspruch.

Tom, der ja - wie gesagt – Ruhrpott-Wurzeln hatte, fand das ebenso niedlich und stimmte in „Zickezacke…“ ein, wie bald der ganze Tisch diese Worte fröhlich aufgriffen.

Einzig Axel und Helga verstanden, was Lili hier wirklich von sich gab. Er verstand bloß nicht, warum sie das sagte. Was war bloß los mit diesem Mädchen? Und wie viele Kölsch hatte sie getrunken?

 
* Wenn ich mir das ganze Aristokraten-Pack so anschaue, wie sie prassen und feiern, und wir, das einfache Volk, haben nichts, da krieg ich die Wut. Es wird Zeit, dass hier bald die Köpfe rollen!< >Mensch, Johann, bleib still! Wenn das die Polizei erfährt, was du hier sagst, wirst du selbst geköpft< <Ist mir egal. Es wird Zeit, dass hier bald die Köpfe rollen! Es wird Zeit, dass hier bald die Köpfe rollen!<

 

Auszug 14:

Epilog:


Wien, 22. Jänner anno domini 1803

 

Wie gar wunderlich ist miroselbst zumuthe! Laute, Klänge, Töne, wunderbar und erhaben, hallen noch nach in meinem Kopfe. Deutlich, klar und tief! So, wie ich sie schon lange nicht mehr hörete.

Wo war ich? Was waret geschehen?

...Bonn, ja in Bonn spielte sich alles ab! In meiner Heimatstadt! Am Rheine, dem schönen, majestätischen, dem Strom, an dem ich geboren bin.

Oh Lili, wie frei du warst, du und deine Freundin, und anscheinend alle Mädchen deiner Zeit! Ihr sagtet was ihr dachtet. Und du erst recht! Wie oft behandeltest du mich wie einen lästigen Dorftrottel, gabest mir zu erkennen, dass ich unheilbar altmodisch und „hinterm Mond“ sei und dass meine Worte deine Nerven strapaziren täten. Ganz am Ende, da hast du dich dann doch besonnen, dass es mit mir immerhin einer der größten Komponisten aller Zeiten war, der in deinem Kopfe herumspukte.

Nun…ich habe es dir stets verziehen. Es hat mich sogar amüsiret. All die profanen Gedanken, die spitze Zunge, die kessen Reden, die für die feinen jungen Damen meiner Zeit als vollends unschicklich gälten, die aber von den freiheitlichen Mädchen deiner Zeit wie selbstverständlich gebrauchet werden.

<Dat dat dat darf!>, hab ich mich in meinem Heimatdialekt oft gefragt.

<Dat dat dat darf! DAT DAT DAT DARF!> Potzblitz, das klingt gut!!!

DAT DAT DAT DARF, DAT DAT DAT DARF, DAT DAT DAT DARF, DAT DAT DAT DARF, DAT DAT DAT DARF, DAT DAT DAT DARF, DAT DAT DAT DARF…>
Das muss ich mir sofort notiren! Nach dat dat dat kleine Terz nach unten. Ja…das ist es! Das könnte der Anfang sein, der Anfang meiner 5. Symphonie. Ja, genau so klopfet das Schicksal an die Pforte! DAT DAT DAT DARF.

Danke, Lili, du bist meine Muse! Behalte mich in guter Erinnerung. Und sei gewiss, dass Raum und Zeit nur Täuschungen sind und alles zu allem gehöret, über Grenzen und Äonen hinweg.